OTC-Switches: Wenn nicht jetzt, wann dann?
Ein Gastbeitrag von Lutz Boden (Apotheker und Leiter Abteilung Innovative Gesundheitsversorgung Pharma Deutschland) und Dr. Maria Verheesen (Pharma Deutschland Referentin Selbstmedikation) in der DAZ Online vom 28. Oktober 2025.
Für den mündigen und in Gesundheitsfragen interessierten Menschen ist eine selbstbestimmte Gesundheitsversorgung von steigender Bedeutung. Diese Haltung steht im Einklang mit den gesellschaftlichen Erfordernissen einer verstärkten persönlichen Eigenverantwortung. Und diese Entwicklung beinhaltet außerdem die Chance, die Gesundheitsversorgung individueller und gleichzeitig effizienter zu gestalten.
Aufgrund der Verfügbarkeit von rezeptfreien, apothekenpflichtigen Arzneimitteln (auch genannt: OTC-Arzneimittel oder OTC) können die Menschen in Deutschland viele gesundheitlichen Beschwerden ganz unkompliziert mit rezeptfreien Arzneimitteln selbst behandeln, ohne Termin oder Zeitverlust in überfüllten Wartezimmern oder Notfallambulanzen. Dabei besteht immer die Möglichkeit, sich in der Apotheke beraten zu lassen. So werden in den Arztpraxen Kapazitäten für die Patientinnen und Patienten mit Beschwerden frei, die unabdingbar einer ärztlichen Konsultation bedürfen. Bereits heute werden durch Selbstmedikation 134 Mio. Stunden ärztlicher Arbeitszeit eingespart und GKV-Ressourcen im Wert von 16 Mrd. Euro freigesetzt. Zusätzlich werden 4,8 Mrd. Euro volkswirtschaftliche Produktivitätsverluste vermieden, unter anderem durch Einsparungen individueller Warte- und Wegezeiten. Ein Euro, der für Selbstmedikation ausgegeben wird, spart jeweils gut 14 Euro für die GKV und 4 Euro für die Volkswirtschaft.
Situation und Bedeutung von OTC-Switches
Diese Zahlen zur Entlastung des Systems verdeutlichen, ohne Selbstmedikation wäre das deutsche Gesundheitswesen nicht denkbar. Zunehmend leisten auch solche rezeptfreien Arzneimittel einen bedeutenden Beitrag für die Gesundheitsversorgung, die im Laufe der Zeit einen sogenannten OTC-Switch erfahren haben, das heißt deren Wirkstoffe in bestimmten Formulierungen und für bestimmte Indikationen aus der Verschreibungspflicht in die Apothekenpflicht entlassen wurden. Dabei ist die Erfahrung mit geswitchten Arzneimitteln durchweg positiv. So sind in fast 50 Jahren in Deutschland weit mehr als 100 Wirkstoffe von der Verschreibungspflicht entbunden worden.
Wenn es um neue rezeptfreie Arzneimittel geht, nehmen die Apotheken vor Ort eine wichtige Rolle ein. Die Apothekenpflicht der Präparate und die Unterstützung durch die Apotheken-Teams sind eine wesentliche Voraussetzung für OTC-Switches. Sie stehen mit ihren Kundinnen und Kunden regelmäßig im Kontakt und kennen ihre Bedürfnisse.
Potenzialhebung durch Reform des bisherigen OTC-Switch-Verfahrens
Angesichts der Ressourcen- und Finanzprobleme im Gesundheitswesen sollten die Potenziale der apothekengestützten Selbstmedikation und neuer rezeptfreier Arzneimittel infolge von OTC-Switches für mehr Effizienz in der Gesundheitsversorgung noch besser genutzt werden. Dafür muss das bisherige außerordentlich komplexe Verfahren zur Entlassung von Produkten aus der Verschreibungspflicht (siehe Kasten „So läuft ein Switch ab“ und Abb. 1) schlanker, planbarer und rechtssicherer sowie damit insgesamt attraktiver werden (Abb. 2). Das bisherige wirkstoffbezogene Verfahren schließt Verfahrensrechte der Antragsteller aus. Ihnen ist lediglich erlaubt, in der Sitzung des Sachverständigenausschusses kurz vorzutragen und Fragen der Ausschussmitglieder zu beantworten. Eine weitere Einbindung ist nicht vorgesehen. So bleibt das Verfahren für die antragstellenden Unternehmen in weiten Teilen intransparent und vor allem langwierig. Regelmäßig vergeht gut ein Jahr zwischen Antragstellung und Inkrafttreten. Dazu kommen die Vorlaufzeiten mit den erheblichen Aufwendungen und damit verbundenen Kosten. Denn für einen Erfolg versprechenden OTC-Switch müssen umfangreiche Daten zusammengetragen, aufbereitet und durch Experten bewertet werden. Nicht selten sind zusätzliche zeit- und kostenaufwendige Studien notwendig. Vor diesem Hintergrund sind für die Hersteller die sog. Scientific-Advice-Gespräche von großer Bedeutung, in denen mit dem BfArM im Vorfeld einer Antragstellung wesentliche Aspekte diskutiert und Erwartungen geklärt werden können.
Marktexklusivität wäre ein Anreiz
Ein weiterer Makel der bisherigen Switch-Regularien ist die fehlende Marktexklusivität. Die Beratungspunkte des Verschreibungsausschusses werden auf der Website des BfArM veröffentlicht. So erhalten Mitbewerber ihrerseits einen Zeit- und Wissensvorteil, um selbst Produkte für den rezeptfreien Markt zu entwickeln – ohne auch nur einen Euro in die aufwendige Antragstellung investiert zu haben. Gelingt der Switch, können vom ersten Tag der Umsetzung an auch die Produkte von Wettbewerbern unter den gleichen Bedingungen in den Markt eintreten. Zwar sieht das europäische wie das deutsche Arzneimittelrecht die Möglichkeit einer einjährigen Schutzfrist für Unternehmen vor, die ihren Switch mit „signifikanten präklinischen oder klinischen Studien“ belegen. Jedoch erweist sie sich in der Praxis als weitestgehend unzureichend bis untauglich. Davon unabhängig ist eine einjährige Schutzfrist deutlich zu kurz, um die Aufwendungen für einen Switch-Antrag zu refinanzieren. Als Wirtschaftsunternehmen müssen die Arzneimittelhersteller sehr genau abwägen, ob und unter welchen Voraussetzungen sie die Entlassung einer Wirkstoffformulierung aus der Verschreibungspflicht beantragen. Andere europäische Länder sind hier bereits weiter und haben das Erfordernis einer Marktexklusivität als Incentive für Switch-Initiatoren erkannt und gewähren drei Jahre Schutzfrist.
Um sowohl den Heilberufen als auch den Patientinnen und Patienten neue Optionen für die Selbstmedikation zu bieten, wirbt Pharma Deutschland dafür, das bisherige wirkstoffbezogene Switch-Verfahren um ein produktbezogenes Verfahren zu ergänzen. Es sollte zukünftig einem Arzneimittelhersteller auch möglich sein, beim BfArM einen regulären Antrag auf Zulassung eines nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittels oder einen Änderungsantrag bezüglich einer bestehenden Zulassung zu stellen. Darüber hätte das BfArM wie bei sonstigen Zulassungsanträgen zu entscheiden. Vergleichbare Verfahren sind bereits in einigen EU-Mitgliedsstaaten etabliert. Mit diesem produktbezogenen Switch-Verfahren käme es zu einer Verfahrensbeschleunigung und zu größerer Transparenz sowie zu einem rechtsmittelfähigen Zulassungsbescheid. Damit würde die Planbarkeit für die Hersteller verbessert, ebenso ihre Teilhabe. Würde zusätzlich eine Marktexklusivität für drei Jahre gewährt, könnte das die Bereitschaft der Unternehmen, in die Entwicklung innovativer rezeptfreier Arzneimittel und OTC-Switches zu investieren, deutlich erhöhen.
Die Bandbreite möglicher Switch-Kandidaten für so ein produktbezogenes Verfahren ist groß und reicht von Arzneimitteln zur externen Anwendung für bestimmte Hauterkrankungen oder gegen Konjunktivitis, über Alternativen gegen Lippenherpes bis hin zu oral einzunehmenden PDE-5-Hemmer bei erektiler Dysfunktion sowie zu bestimmten Hormonpräparaten zur Kontrazeption. Hinzu kommen Optionen für weitere Darreichungsformen oder Packungsgrößen (z.B. bei Triptanen) mit bereits rezeptfreien Wirkstoffen.
Potenzial der Selbstmedikation nutzen
Die Zeit für eine Neujustierung des Verhältnisses von individueller gesundheitlicher Eigenverantwortung ist schon lange reif. Rezeptfreie Arzneimittel sind gut, sicher und helfen zuverlässig bei einer großen Bandbreite von gesundheitlichen Beschwerden. Vielleicht braucht es den großen politischen und gesellschaftlichen Druck, der auf dem deutschen Gesundheitssystem lastet, um die naheliegende Ausweitung der Selbstmedikation mit neuen rezeptfreien Arzneimitteln aus der Apotheke umzusetzen. Für die Nutzung des vollen Potenzials der Selbstmedikation braucht es ein effizienteres und attraktiveres Switch-Verfahren mit der Möglichkeit, auch produktbezogen zu switchen. In dem Maß, in dem mehr neue rezeptfreie Arzneimittel durch OTC-Switches zur Verfügung stehen, kann Selbstmedikation noch stärker …
- wichtige Ressourcen in Arztpraxen und Notfallambulanzen schonen,
 - der GKV viel Geld sparen, das zur Bewältigung neuer Herausforderungen dringend benötigt wird,
 - dem Einzelnen Aufwand ersparen und schnelle Hilfe gewähren und
 - die volkswirtschaftliche Produktivität erhöhen, z.B. durch weniger Krankheitsausfälle.
 
Für die Apotheken können sich in diesem Zusammenhang zusätzliche Möglichkeiten durch ein erweitertes Spektrum an pharmazeutischen Dienstleistungen ergeben – auch im Selbstzahlermarkt. In der Diskussion befindet sich nach Bekanntwerden des BMG-Fahrplans zur Apothekenreform auch die mögliche Abgabe von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln in bestimmten Ausnahmesituationen. Hierbei sollte genau hingeschaut werden, ob nicht in einigen Fällen ein OTC-Switch das effektivere und effizientere Vorgehen wäre.
Quelle: OTC-Switches: Wenn nicht jetzt, wann dann? - Deutsche Apotheker Zeitung vom 28. Oktober 2025