Gesunde Perspektiven für Deutschland – Mehr Selfcare braucht das Land
Dr. Traugott Ullrich beleuchtet in seinem Impulsvortrag den aktuellen Zustand des deutschen Gesundheitssystems und zeigt auf, warum ein Umdenken dringend notwendig ist. Die Diagnose ist eindeutig: Das System ist überlastet, ineffizient und sozial ungerecht.
Deutschland steht vor einer demografischen Herausforderung: Über 50 % der Bevölkerung sind älter als 45 Jahre, rund 20 % sogar über 65. Die Wartezimmer sind voll, denn Patientinnen und Patienten suchen im Durchschnitt zehnmal pro Jahr ärztliche Hilfe – im Vergleich dazu liegt der Wert in Schweden bei nur 2,9 Arztbesuchen jährlich. Gleichzeitig ist die Lebenserwartung in Schweden um drei Jahre höher. Ein Grund dafür: In Deutschland kann jeder direkt zum Facharzt gehen, was zu langen Wartezeiten führt – 25 % der Patientinnen warten mindestens 30 Tage auf einen Termin.
Auch die Versorgung mit Medikamenten ist kritisch: Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) meldet Lieferengpässe bei rund 500 Wirkstoffen – betroffen sind etwa drei Millionen Menschen. Selbst lebenswichtige Medikamente wie Tamoxifen zur Behandlung von Brustkrebs waren 2022 über Monate nicht verfügbar. Dabei liegt das Problem nicht beim Preis – Tagestherapiekosten betragen gerade einmal 0,088 €. Vielmehr droht Deutschland, vom „Apotheker der Welt“ zum „Armenhaus der Arzneimittelversorgung“ zu werden.
Mit jährlich rund 500 Milliarden Euro Gesundheitsausgaben liegt Deutschland im unteren Drittel der Leistungsfähigkeit im internationalen Vergleich. Das System ist stark frequentiert, aber nur mittelmäßig effizient. Besonders alarmierend: Die gesundheitlichen Chancen sind sozial ungerecht verteilt. Menschen aus dem oberen Einkommensdrittel leben ca. 8-10 Jahre länger als jene aus dem unteren Drittel. Das untere Drittel der Bevölkerung verliert zunehmend das Vertrauen in das System.
Doch Gesundheit kann mehr sein – nämlich ein Wachstumsmotor für Deutschland. Die Gesundheitswirtschaft trägt 12,5 % zum Bruttoinlandsprodukt bei, mit einer Bruttowertschöpfung von 40 Milliarden Euro jährlich und einer konstanten Wachstumsrate von 4 % über die letzten zehn Jahre. Investitionen in Forschung und Entwicklung belaufen sich auf 10,7 Milliarden Euro, in Infrastruktur auf 3,5 Milliarden Euro.
Das Gebot der Stunde lautet: Resilienz. 70 % der generischen Wirkstoffe stammen aus China und Indien – geopolitische Konflikte gefährden die Versorgungssicherheit. Die Abhängigkeit ist nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesundheitlich riskant.
Ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem muss den Patienten in den Mittelpunkt stellen. Wer sich gesehen, gehört und ernst genommen fühlt, nimmt weniger Leistungen in Anspruch und setzt stärker auf Selbstmedikation. Schon heute spart ein GKV-Patient im Schnitt 0,14 € durch Selbstmedikation.
Voraussetzung dafür sind eine gestärkte politische Wahrnehmung und Stärkung der Gesundheitskompetenz der Patientinnen und Patienten: eine Umfrage ergab, dass 74 % der Befragten, nicht ausreichend mit Gesundheitsinformationen umgehen können. Die mittelständische pharmazeutische Industrie muss gestärkt werden, und Selbstmedikation sollte in der Ausbildung von Ärzt:innen und Apotheker:innen eine größere Rolle spielen.
Nur durch ein Umdenken – hin zu einem patientenorientierten, resilienten und sozial gerechten System – kann Deutschland gesunde Perspektiven für die Zukunft schaffen.