Hintergrund des Verfahrens ist eine in Frankreich von Doctipharma SAS betriebene Website, die es Internetnutzern ermöglicht, nicht verschreibungspflichtige bei einem Apotheker, der seine E-Commerce-Website über die technische Lösung von Doctipharma betreibt, zu erwerben. Dieses Vertriebsmodell ist angegriffen worden mit der Begründung, dass der Online-Verkaufsprozess, den Doctipharma Apotheken anbiete, bedeute, dass sie am elektronischen Handel mit Arzneimitteln teilnehme und dass diese Tätigkeit rechtswidrig sei, da Doctipharma keine Apothekerin sei.
Erstinstanzlich wurde diese Plattform als rechtswidrig gewertet, während die Berufungsinstanz dies anders und die Plattform lediglich als zur technischen Unterstützung der Websites der Apotheker eingerichtete Plattform wertete. Dieses Urteil wurde schließlich von der Cour de cassation (Frankreich) aufgehoben und die Angelegenheit an die Cour d'appel de Paris, das nun dem EuGH vorlegende Gericht zurückverwiesen. Nach Ansicht der Cour de cassation bestehe die Tätigkeit von Doctipharma insbesondere darin, Apotheker mit potenziellen Patienten für den Verkauf von Arzneimitteln zusammenzubringen, sodass es als Vermittler auftrete und somit am elektronischen Handel mit Arzneimitteln teilnehme, ohne Apotheker zu sein, was einen Verstoß gegen diese Bestimmungen des Code de la santé publique darstelle.
Mit insgesamt 6 Vorlagefragen, möchte das französische Gericht klären lassen u.a., ob die Tätigkeit von Doctipharma als "Dienst der Informationsgesellschaft" im Sinne der Richtlinie 98/34/EG über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften zu betrachten sei und wenn dem so ist, ob die Tätigkeit von Doctipharma in den Anwendungsbereich von Artikel 85c der Richtlinie 2001/83/EG fällt und somit gg. EU-Rechtswidrig ist. Nach Art. 85c der RL 2001/83/EG stellen die „Mitgliedstaaten sicher, dass das Angebot von Arzneimitteln an die Öffentlichkeit zum Verkauf im Fernabsatz durch Dienste der Informationsgesellschaft, wie in der Richtlinie 98/34/EG“ … festgelegt, unter bestimmten Bedingungen erfolgt. Ferner wird gefragt, ob Art. 85c der Richtlinie 2001/83/EG dahin auszulegen ist, dass das französische Verbot von Bestellportalen eine durch den Schutz der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigte Beschränkung darstellt.
Der Generalanwalt kommt in seinen Schlussanträgen zu dem Ergebnis, dass ein von einem Anbieter auf einer Website erbrachter Dienst, der darin bestehe, Apotheker und Kunden für den Verkauf von nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln über die Websites der Apotheken, die sich gegen eine Pauschalgebühr bei dieser Website angemeldet haben, miteinander zu verbinden, ohne dass der Diensteanbieter, der Apotheker und der Kunde beim Abschluss eines Kaufvertrags auf andere Weise als mit Hilfe elektronischer Mittel miteinander in Kontakt treten, einen "Dienst der Informationsgesellschaft" im Sinne von Artikel 1 Absatz 2 der Richtlinie 98/34 darstellt. Allerdings sei es im vorliegenden Fall Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob im Hinblick auf die im Ausgangsverfahren streitige Dienstleistung in tatsächlicher Hinsicht alle Elemente eines Dienstes der Informationsgesellschaft gegeben waren. Die im Verfahren gemachten Angaben seien nicht immer kohärent.
Weiter führt der Generalanwalt aus, dass ein nationales Verbot von Bestellplattformen für Arzneimittel gegen Art. 85c Abs. 2 der Richtlinie 2001/83 verstößt, es sei denn, es werde nachgewiesen, dass dieses Verbot zum Schutz der öffentlichen Gesundheit geeignet und erforderlich sei. Dies zu prüfen sei Sache des vorlegenden Gerichts.
Allerdings macht der Generalanwalt durchaus konkrete Ausführungen dazu, was darunter zu verstehen ist. Vor allem weist er auf die Bedeutung des Vertrauensverhältnisses hin, das zwischen einem Angehörigen der Gesundheitsberufe wie einem Apotheker und seinen Kunden bestehen müsse, könne der Schutz der Würde eines reglementierten Berufs einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen, der sich auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit beziehe und eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs zu rechtfertigen vermag. Unter Hinweis auf die Vorschriften zum Schutz des Eindringens gefälschter Arzneimittel in der Versorgungskette, stellt er fest, dass die Notwendigkeit, die Zuverlässigkeit und Qualität der Versorgung der Öffentlichkeit mit Arzneimitteln sicherzustellen, ein Ziel des Schutzes der menschlichen Gesundheit und des menschlichen Lebens darstelle. Schließlich umfasst das Ziel des Schutzes der öffentlichen Gesundheit nach Auffassung des Generalanwalts auch die Verhinderung einer irrationalen und übermäßigen Verwendung von Arzneimitteln, die nicht der ärztlichen Verschreibung unterliegen, was dem wesentlichen Ziel des Schutzes der öffentlichen Gesundheit entspreche.
Was die Eignung einer nationalen Maßnahme zur Erreichung des genannten Ziels angehe, so sei zu berücksichtigen, dass ein Mitgliedstaat bei Ungewissheit über das Vorhandensein oder das Ausmaß von Risiken für die menschliche Gesundheit in der Lage sein sollte, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, ohne abwarten zu müssen, bis sich die Realität dieser Risiken in vollem Umfang zeigten.
Schließlich weist er darauf hin, dass die Gesundheit und das Leben des Menschen unter den durch den AEU-Vertrag geschützten Gütern und Interessen an erster Stelle stehen und dass es Sache der Mitgliedstaaten sei, das Schutzniveau, das sie der öffentlichen Gesundheit gewähren wollen, und die Art und Weise, wie dieses Niveau erreicht werden soll, zu bestimmen.
Gerade die Ausführungen des Generalanwaltes zum Schutz der öffentlichen Gesundheit sind sehr konkret und auch deshalb bemerkenswert, da Doctipharma seit 2021 zu Doc Morris gehört.
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